Melanie Spitta und Katrin Seybold
14h30 Workshop 1. September 1999
Sinteza und Nichtzigeunerin
Die Nichtzigeuner verfolgen die Sinti immer noch, und diese mißtrauen ihnen – zu Recht. Melanie Spitta und Katrin Seybold haben mit fünf Filmen versucht, diesen Teufelskreis zu durchbrechen: „Wir haben eine Geschichte, eine Vergangenheit und wenden uns entschieden gegen Rassentrennung und Bevormundung.“ (Melanie Spitta)
Bio-Filmographie Melanie Spitta

„Meine Familie emigrierte 1938 nach Belgien, um der Verfolgung des Naziregimes zu ent-gehen. Eine sinnlose Hoffnung, denn nur sechs Personen von dreißig überlebten die Gas-kammern von Auschwitz oder die Arbeitslager. Meine Mutter war sehr krank, Auschwitz hatte ein Wrack aus ihr gemacht. Dennoch war sie ohne Haß gegen die Deutschen. Sie versuchte mir, als einzigem noch lebenden Kind - alle meine Geschwister kamen in Auschwitz um- ein fröhliche Jugend zu gestalten. Nach Kriegsende wuchs ich in Düren im Rheinland mit der Restfamilie auf. Ich erlebte früh, was es heißt eine Sinteza (Zigeunerin) zu sein. In der Schu-le war ich den Hänseleien und Diskriminierungen der Mitschüler ausgesetzt. Mich dagegen zu wehren, bedeutete nur eine Verschlimmerung der Lage. Auch heute gehören die Hänse-leien und die ständige Diskriminierung in den Schulen zum Alltag unserer Kinder. Wir müs-sen immer wieder die Erfahrung machen, daß wir gegen die Obermacht und den Hochmut der Deutschen, der Nichtzigeuner, nichts ausrichten können. Als einzige Sinteza in Deutschland, die Filme macht, trete ich denen entgegen, die ständig einen Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen wollen.“
Mitarbeit bei zahlreichen Publikationen als Beraterin, Gastvorträge an Universitäten, Veröffentlichungen in Zeitschriften, Mitarbeit bei Ausstellungen, Rundfunk. Drehbuch des Spiel-films MELEZA UND GALLIER mit Katrin Seybold.

Autorin und Regisseurin der Kinodokumentarfilme: *SCHIMPFT UNS NICHT ZIGEUNER, 1980 *WIR SIND SINTIKINDER UND KEINE ZIGEUNER, 1981 *ES GING TAG UND NACHT LIEBES KIND / Zigeuner (Sinti) in Auschwitz, 1982 *DAS FALSCHE WORT / Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinte) in Deutschland?,1987

Sie sagt: Ich entscheide frei - als Sinteza und als Frau. - Als eine frei entscheidende deutsche Sinteza engagiert sie sich schon früh aktiv in der Bürgerrechtsbewegung. Sie nimmt am ersten Roma-Weltkongreß in London teil, bei dem die verschiedenen Gruppierungen ihres Volkes zusammenkommen. Sie ist Mitglied der interna-tionalen Romani-Welt-Union und des Romani Pen.

Solche Aktivitäten sind nach den Vorurteilen im Kopf von Nicht-Zigeunern eher untypisch für Zigeuner. Auf diese Weise nimmt Melanie Spitta ihre Rechte als Staatsbürgerin wahr, auf demokratischen Weg Verbesserungen für die Situation ihres Volkes zu erreichen und das Be-wußtsein der Nicht-Zigeuner dafür zu schärfen, daß Zigeuner bei allen Unterschieden zur nicht-zigeunerischen Welt Menschen sind wie alle anderen auch. Mit einem gra-vierenden Unterschied: Zigeuner gehören der Minderheit an, die von den Nationalsozial-isten vom Erd-boden getilgt werden sollte. Es ist auch beinahe gelungen. Mit barbarischen Mitteln. Zum Beispiel durch Zwangssterilisation schmerzhaftester Art im KZ schon bei zwölfjährigen Mäd-chen: „Die Frauen konnten keine Familien mehr gründen, wenn sie zwangsweise sterilisiert worden sind. Und das ist ein tiefer Einschnitt in unsere Familienstruktur... in unseren eigenen Reihen gab es gerade da, als es darum ging, über die Zwangssterilisationen an unseren Frauen in der Öffentlichkeit zu sprechen, heftige Debatten und sogar Anfeindungen. Es war nicht nur die Scham, das sich Offenbaren in der Öffentlichkeit, tiefer Schmerz, Trauer, Angst und Wut über diese erlittenen Demütigungen. Hier gab es noch etwas: Nämlich die Stelle, wo unser Tabu und die Naziverbrechen aufeinanderprallen. Es ist aber unbedingt notwendig, daß dieses Tabu transparent wird, um die schweren Schandtaten, die deutsche Naziärzte nicht nur an unseren Frauen begangen haben, endlich benannt und aufgezeigt werden können.“ (Jek Chib / Mit einer Zunge reden, 4/1995)



Bio-Filmographie Katrin Seybold

Filmemacherin seit 1970, lebt in München. Gelernt bei Hans-Rolf Strobel, Ula Stöckl und Edgar Reitz. Filme zu Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeitern und Angestellten, Öko-logie, Sinti. 1981 - 84 Mitglied des Auswahlausschusses für Filmförderung beim BMI, seit 1994 Mitglied der Akademie der Künste Berlin, zahlreiche Preise und Auszeichnungen, auch Produzentin.

Dokumentarfilme (Auswahl): *AKKORDARBEITERIN BEIM OSRAM-KONZERN, 1971 *SCHIMPFT UNS NICHT ZIGEUNER, 1980 *WIR SIND SINTIKINDER UND KEINE ZIGEUNER, 1981 *WIR SIND STARK UND ZÄRTLICH, 1981 *ES GING TAG UND NACHT LIEBES KIND / Zigeuner (Sinti) in Auschwitz, 1982 *DAS ERSTE MAL ÜBER 130 GEFAHREN..., 1985 *DAS FALSCHE WORT / Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinte) in Deutschland?,1987 *„ALLE JUDEN RAUS!“ /Judenverfolgung in einer deutschen Kleinstadt 1933-1945, mit Ema-nuel Rund, 1990 *ICH MÖCHTE IMMER DARÜBER REDEN / Katastrophen und das Leben danach, 1991 *ES GING RASEND SCHNELL / Unfallopfer und ihre Täter, 1994 *MUT OHNE BEFEHL / Widerstand und Verfolgung in Stuttgart 1933-1945, 1994 *NEIN ! / Zeugen des Widerstandes in München 1933-1945, 1998

Spielfilme:
*EIN WILD, ROH, TOBEND VOLK / Die Deutschen und ihr Luther, 1983 *DER SECHSTE TAG / Bestiarium: Der Hund, 1991 *DIR ZU LIEBE / Pflege in einer Familie, 1997. In Vorbereitung: MELEZA UND GALLIER, mit Melanie Spitta

Ihren einundfünfzigsten Film hat Katrin Seybold soeben fertiggestellt. Wie bei fast allen ihren Filmen, sowohl in der Form der Dokumentation als auch der Form der Fiktion und der künstlerisch und thematisch anspruchsvollen Projekte hat sie sich einen Namen gemacht. Vier von den einundfünfzig Filmen sind Spielfilme. - Bei vielen Filmen hat sie sich der Mitarbeit kompetenter Spezialisten versichert. Ohne diese Mitarbeiter, um nur Heiner Michel und Melanie Spitta zu nennen, hätte sie es noch schwerer gehabt, sich ihren Zielen zu nähern. Katrin Seybold hat sich der Aufklärung unserer Vergangenheit verschworen. Ihre Themen sind die Wiedergutmachung des Unrechts, wenigstens in der Form seines Eingeständnisses, das an Juden und Zigeunern durch die nationalsozialistische Politik begangen wurde und zum Teil heute noch unerkannt durch die deutschen Behörden in den Archiven verschüttet liegt.

M. Spitta K. Seybold. Foto: H. Zemann